Vor genau 75 Jahren, am 15. Mai 1935, raste der erste Waggon durch den Untergrund der russischen Hauptstadt.
Heute drängen sich fast neun Millionen Passagiere täglich in 10 000 Zügen. Zwar belegt die Metro mit 292 Kilometern Streckenlänge weltweit nur Platz fünf hinter zum Beispiel New York und Tokio. Aber die Marmorsäulen und Hammer-und-Sichel-Mosaike sowie die im Fahrtwind schaukelnden Kronleuchter machen die Stationen zu wahren Palästen unter Tage.
«In der Moskauer Metro lebt die 1991 untergegangene Sowjetunion weiter», meint der Strassenmusiker Artjom. Tagelöhner aus Zentralasien, Pelzhändler aus Sibirien, bettelnde Afghanistan- Veteranen im Rollstuhl und Glücksritter aus dem Kaukasus wackeln in den oft jahrzehntealten Wagen hin und her.
Raumschiff der Sowjetzeit
«Der Zug wirkt wie ein sowjetisches Raumschiff, das irgendwann vom Weltraumbahnhof Baikonur gestartet ist und die Landung vergessen hat», meint Artjom halb im Scherz. Der 41-Jährige «liebt» die U- Bahn, wie er sagt, und war wie viele Moskowiter vor acht Wochen schockiert, als Selbstmordattentäterinnen 40 Passagiere mit in den Tod rissen.
Zwei junge Frauen zündeten an belebten Stationen ihre Sprengstoffgürtel, um auf die Zustände in ihrer Heimat Nordkaukasus hinzuweisen. Dort kämpfen kremltreue Einheiten gegen islamistische Rebellen. Noch Tage nach der Bluttat legten die oft als hartherzig verschrienen Hauptstädter Blumen für die Opfer nieder.
Stalins Prestigeobjekt
Tote hatte es auch beim Bau der Metro in den 1930er Jahren gegeben. Für Sowjetdiktator Josef Stalin war die U-Bahn ein Prestigeprojekt, mit dem er der Welt die «Überlegenheit des Sozialismus» zeigen wollte.
Zeitweise schufteten mehr als 70 000 Arbeiter unter beklagenswerten Zuständen für einen Hungerlohn auf der Grossbaustelle. «Wenn ich mit der Linie 1 fahre, fahre ich quasi über Knochen», sagte der russische Historiker Juri Prochorow einmal.
Die Stationen wurden nach Revolutionsführer Lenin oder Marxisten sowie nach Volksdichtern wie Puschkin oder «Heldenstädten» wie dem früheren Stalingrad benannt. Am Prunk früherer Zarenpaläste orientierten sich Künstler bei der Gestaltung der Stationen.
Im Zweiten Weltkrieg wurden sie als Bunker für die Bevölkerung genutzt. Heute verkehrt die Metro in Spitzenzeiten alle 45 Sekunden. Als touristenfreundlich gilt sie nicht: Alle Durchsagen sind in Russisch, alle Inschriften Kyrillisch.
Moskauer Alltag underground
Gerade einmal 13 Haltestellen steuerten die Zugführer zu Beginn des Betriebs an, mehr als 180 sind es heute. Etwa 23 Rubel (rund 85 Rappen) kostet eine Einzelkarte. Von 5.30 Uhr morgens bis fast 2 Uhr nachts rollen die mehr als 30 Tonnen schweren Waggons.
Drinnen lösen Hausfrauen Sudoku-Zahlenrätsel, Jugendlichen dröhnt Musik der deutschen Band Rammstein aus dem Kopfhörer, Unternehmer ärgern sich über schlechten Handy-Empfang, ein betrunkener Passagier schläft, und ein anderer liest die Zeitung seines Nachbarn mit. Kriminalität gibt es auch, meist ist es der «U-Bahn-Klassiker» Taschendiebstahl.
Moderne Mythen
Seit Beginn des Betriebs halten sich hartnäckig Gerüchte über eine geheime zweite Metrolinie, die vom Kreml zu einem Kommandobunker jenseits des Moskwa-Flusses führen soll. Für eine solche, angeblich von Stalin befohlene Verbindung gibt es aber keine Beweise.
Aber auch heute regt die U-Bahn die Fantasie kräftig an. In seinem Erfolgsroman «Metro 2033» beschreibt der junge Autor Dmitry Glukhovsky die «Moskowskij metropoliten» als letzte Zuflucht der Menschheit nach einem Atomkrieg. Der finale Kampf findet dann aber nicht unter der Erde, sondern – im Gegenteil – am höchsten Punkt Moskaus statt: auf dem 540 Meter grossen Fernsehturm Ostankino.
via 20 Minuten Online – Eine «Fahrt über Knochen» – Kreuz und Quer.